So viel Heimlichkeit

Es ist ein ziemlich gewöhnlicher Samstagmorgen.

Schlaftrunken und barfuß tapse ich ins Bad. Erst mal Radio anschalten. Das mach ich immer zuallererst. Es läuft „Last Christmas“, denn es ist ein ziemlich gewöhnlicher Samstagmorgen im Dezember. Der 5. Dezember 2015 um genau zu sein.

Das anstehende Nikolauswochenende werden wir mit Freunden in Brandenburg verbringen. Dort haben wir eine alte Villa am See gemietet. Wollen gemeinsam kochen, Glühwein trinken, bei Kerzenschein zusammen sitzen, womit man sich die Vorweihnachtszeit eben so vertreibt.

Routiniert ziehe ich ein dünnes langes Stäbchen aus der großen Packung. Das letzte. Es ist ein Schwangerschaftstest, denn ich habe die Pille abgesetzt. Vor einigen Wochen schon. Bislang tut sich nix. So gar nix. Doch wenn man jahrelang Hormone nimmt und dann eine Volbremsung einlegt, muss der ganze Hormonhaushalt sich erst mal erholen. So weit, so logisch.

Die Teststreifen habe ich seither im Bad liegen und prüfe hin und wieder. Nicht, dass ich irgendwann schwanger bin und als letzte davon erfahre.

Ich tue mit dem Stäbchen, was man damit eben tun muss und lege es achtlos auf den Waschbeckenrand.

Mit der Zahnbürste im Mund gurgel ich den Weihnachtsklassiker von WHAM mit. Eher zufällig streift mein Blick den Teststreifen. Komisch.

Das sah gerade aus, als wären da zwei Streifen drauf. Wie lustig.

Momentchen mal! Beinahe ersticke ich an meiner elektrischen Zahnbürste! Da ist wirklich ein zweiter Strich! Aber würde das nicht heißen??? Nein! Das kann nicht sein. Hätte ich doch gemerkt. Weibliche Intuition. Körpergefühl! Ein Gespür. Doch außer einem deutlichen Harndrang habe ich heut Morgen nichts verspürt.

Ich schnappe mir das Stückchen Pappe und renne damit einmal quer durch die Wohnung. Halte es gegen das Fensterlicht, unter die Schreibtischlampe, setze die Brille auf und dann wieder ab. Mit dem Zeigefinger reibe ich kräftig über die Streifen. Sie sind noch immer da. Beide!

Ach du heiliger Bimbam! Ich glaub, ich bin schwanger! Am liebsten würde ich jetzt sofort 2 bis 20 Tests machen um wirklich sicher zu sein, doch wie gesagt, dieser Teststreifen war mein letzter.

Ob ich wirklich schwanger bin? Wie konnte ich das nicht mitbekommen? Und wie sage ich das jetzt dem Herzmann, der gleich aus dem Nachtdienst kommt? Für eine süße Überraschung, wie Babysöckchen auf dem Kopfkissen oder einem Ultraschallbild unter der Kaffeetasse fehlt mir jetzt die Zeit. Und ein Ultraschallbild. Während ich noch fieberhaft überlege dreht sich der Schlüssel in der Wohnungstür. Planänderung. Wir machen das jetzt ganz spontan. Spontan ist eh immer am besten.

Ich bin so aufgeregt. Ob er vor Freude weinen wird? Damit rechnet er auf gar keinen Fall!

In Windeseile renne ich durch den langen Flur. Ohne weitere Umschweife platzt es aus mir heraus:

„Ich bin schwanger!“

Mein Mann schaut mich aus todmüden Augen an und sagt … nichts.

Hat er mich nicht verstanden? Ich hole noch einmal tief Luft, da spricht er.

„Wie schön für dich.“

Okay. Nun bin ich sprachlos. Schön für mich? Ob er weiß, dass ER der Vater ist?

„Schön für MICH? Hä? Na und für dich?“

„Für mich auch, aber für dich freue ich mich besonders.“

Und das wäre das.

Vielleicht ist das ja eine Art Schockzustand? Ich nehme mir fest vor nicht so enttäuscht von seiner Reaktion zu sein, meine Aufregung unter Kontrolle zu bekommen und ihn nicht alle drei Minuten zu fragen, ob er diese Neuigkeit genauso bahnbrechend findet wie ich. Auf der zweistündigen Autofahrt nach Brandenburg reden wir über Belangloses, „hast du den Heringssalat eingepackt?“ „Ist die Kaffeemaschine auch wirklich aus?“ Ihr kennt das.

Doch in meinem Kopf summt die ganze Zeit nur ein Satz
„Ich bin schwanger. Ich bin Schwanger. SCHWANGER!“

Verstohlen lege ich eine Hand auf meinen Bauch, „hallo, ist da jemand?“

Was für ein irrer Gedanke. Er wird von einem anderen Gedanken verdrängt. „Wie halte ich das jetzt das ganze Wochenende geheim?“ Auf Glühwein und Co. muss ich verzichten. Da werden unsere Freunde den Braten doch sofort riechen. Also komm ich mit der Universalausrede einer jeden Neu-Schwangeren um die Ecke, „ich kann leider keinen Alkohol trinken. Nehme Antibiotika. Magen-Darm …“ Originell geht anders, doch für originell hab ich gerade keinen Kopf.

Unser Fahrt führt uns durch verschlafene Dörfchen, endlose Alleen und über eine schlecht befestigte Seitenstraße schließlich zur Villa am See. Als wir die rostige Gartenpforte öffnen und uns dem alten Gemäuer nähern, dringt uns eine wahre Kakophonie entgegen. Kindergejubel, Babygeschrei, Geschirrgeklapper, Menschengeplapper und ein Klavier. Dieses Klavier …

Mit Betreten des Hauses wird es noch schlimmer. Ich verstehe meine eigenen Gedanken nicht mehr.

In diesem alten Haus befinden sich gerade 9 Erwachsene und 8 Kinder. Doch es könnte genauso gut die Fußballmannschaft der alten Herren aus Buxtehude samt Fanclub unter diesem Dach verweilen, sie wären nicht lauter.

In jedem Raum herrscht geschäftiges Treiben. In der Küche wird gerade das Abendessen zubereitet, am Esstisch entstehen filigrane Fröbelsterne, in den Schlafzimmern prüfen die Kinder ob sich die quietschenden Betten als Trampolin eignen und im Wohnzimmer spielt ein Klavier. Dieses Klavier …

Versteht mich bitte nicht falsch, ich liebe Musik. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen sehr musikalisch zu sein. Doch die ersten paar Takte des Flohwalzers, krumm und schief und ohne Unterbrechung zu hören (das muss man der kleinen Künstlerin lassen, Durchhaltevermögen hat sie) das würde den größten Musikfreund zum Kunstbanausen machen.

Der Herzmann und ich stehen verloren im Wohnzimmer, um uns herum herrscht Tohuwabohu, in jeder Ecke steht ein Laufställchen aus dem sich kleine Kinderstimmen fordernd melden. Oh du Fröhliche!

Wir beide schauen uns an, eine Mischung aus Belustigung und Genervt-Sein.
„Bereust du es jetzt schon?“ frage ich ihn mit einem vielsagenden Blick. Ich meine zwar auch das Nikolauswochenende in Brandenburg doch viel tiefer, viel wichtiger, die Familienplanung, die anscheinend längst in Gange ist.

„Nein“ schmunzelt er zurück und meint hoffentlich auch beides.

Es dauert nicht lang, da wird mir der erste Sekt angeboten. „Nein danke“ lehne ich kurz ab. Während der edle Spender nur die Achseln zuckt, blickt die Damenrunde am Basteltisch abrupt auf.
„Warum möchtest du keinen Sekt, Bella?“

So, jetzt nicht rot werden und einfach raus, mit der Notlüge. „Antibiotika, Magen-Darm, wie blöd.“ stammle ich.

Wie gut diese Ausrede funktioniert merke ich spätestens, als mir eine der Mädels die Brigitte MOM über den Tisch schiebt.

Nach dem Abendessen verkrümle ich mich schon bald ins Bett. Mir ist das alles zu laut, zu viel, zu durcheinander. Ich muss alleine sein, mit mir und den neuen Gedanken.

Am Nikolausmorgen sieht die Welt schon anders aus. In mir kribbelt es vor lauter Vorfreude und Spannung. Wenn wir zurück in Leipzig sind, muss ich dringend einen neuen Schwangerschaftstest kaufen, ich brauche Gewissheit!

Nach zwei weiteren Tests glaube ich es langsam selbst. Endgültige Gewissheit, liefert der Ultraschall 10 Tage später. Wow, diese kleine Bohne ist ein Mensch. Mein kleiner Mensch!
Ein paar Tage vor Heiligabend fahre ich nach Hause. Die Taschen voller Geschenke, doch mein wertvollster Schatz befindet sich in einem kleinen Umschlag. Das erste Bild vom Mini.

Bis Weihnachten werde ich das süße Geheimnis nicht hüten können, dafür geht es mir mittlerweile zu schlecht. Meine Mutter wird es mir an der blassen Nasenspitze ansehen.

Doch ganz ohne weihnachtliche Überraschung kommen sie mir nicht davon. Nach dem traditionellen Baumschmücken trommle ich alle Familienmitglieder zusammen. „Ich möchte ein Familienbild vor dem Baum“ erkläre ich knapp. Das verwundert niemanden, unsere Familie macht nämlich ständig Bilder. Meine Eltern und Geschwister drapieren sich brav vor dem Baum.

„Ich mach nur ein Probebild von euch, dann drücke ich auf den Selbstauslöser. Seid ihr bereit? Gut. Dann nett lächeln und alle sagen:
Bella ist schwanger!“
Klick.
Die verdutzen Gesichter hab ich im Kasten.

Meine Eltern finden, es kann kein besseres Geschenk geben. Toll, wenn ich das vorher gewusst hätte, dann wäre mir der Geschenkestress in diesem Jahr erspart geblieben.

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